15.11.2024

"Kürzungen sind gesellschaftlicher Sprengstoff"

Die Landesregierung NRW will fast 83 Millionen Euro für die Freie Wohlfahrtspflege und damit für die soziale Infrastruktur einsparen. "Das wäre eine Katastrophe", sagt Heike Keßler-Wiertz, Vorständin des Diakonisches Werks im Kirchenkreis Aachen e.V.

(Quelle: Andreas Ritzerfeld)

Was bedeuten die aktuellen Kürzungspläne des Landes NRW und des Bundes für die soziale Arbeit vor Ort, insbesondere für die Beratungsinfrastruktur?  Welche  Auswirkungen können die Kürzungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor Ort in Aachen haben? Diese und andere Fragen besprechen wir mit Heike Keßler-Wiertz, Vorstand Diakonisches Werk im Kirchenkreis Aachen e.V. 

82.943.509 Euro weniger. Frau Keßler-Wiertz, was bedeuten diese Einsparungen für Ihre Arbeit vor Ort?

Heike Keßler-Wiertz Wir haben als Landesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände eine Broschüre erstellt: Jetzt können wir sehen, welche Auswirkungen diese Kürzungen auf die einzelnen Bereiche unserer Arbeit haben. Was direkt auffällt: Im Bereich "Migration, Flucht und Integration" fallen die Kürzungen am massivsten aus. 22,7 Millionen Euro weniger sollen diesem Bereich zur Verfügung stehen. In der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen fallen 6,7 Millionen Euro weg, im Bereich "Alter und Pflege" sind es 12,7 Millionen Euro. Auch für die Armutsbekämpfung, und damit für die Menschen in Arbeitslosigkeit sollen 2,6 Millionen Euro weniger ausgegeben werden. Die Liste ist lang, alle Bereiche sind betroffen.

Hatten Sie diese Kürzungen in Aachen erwartet?

Heike Keßler-Wiertz Wir wussten, dass es zu weiteren Kürzungen kommen wird. Und wir haben in der Städteregion Aachen schon im vergangenen Jahr das Gespräch mit Partnern in der Wohlfahrtspflege und mit Politikern der Kommunen und überregional gesucht. Es gab ein Turmgespräch, in dem wir über mögliche Konsequenzen von weiteren Kürzungen gesprochen haben. Aber diese Dimension der Kürzungen, die konnten wir nicht voraussehen.

Lassen Sie uns konkret in die Städteregion Aachen und in die Arbeit in den Quartieren blicken. Was lösen diese Kürzungen aus?

Heike Keßler-Wiertz Ein Beispiel: Die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer ist jetzt schon überbelaset. Durch die Kürzungen werden die Personalressourcen massiv schrumpfen. Schon jetzt besetzen die Wohlfahrtsverbände in der Region frei gewordene Stellen nicht mehr nach. Das wird zur Konsequenz haben, dass es entweder ewig lange Wartelisten geben wird oder wir keine neuen Anfragen mehr annehmen können. Aber eigentlich hat jeder Zuwanderer einen Anspruch auf die Beratung, deswegen wird das Angebot auch vom Bund gefördert.

Ein anderes Beispiel: Die Mittel für Präventionsarbeit in der Suchthilfe sollen um 37 Prozent gekürzt werden. Gruppenangebote für Betroffene und Angehörige werden wegfallen. Präventionsprojekte in Schulen werden nicht mehr stattfinden. Das ist gerade mit Blick auf die aktuelle Legalisierung von Cannabis völlig unverständlich. Wir können diese Beispiele weiterführen: Die Beratung von pflegenden Angehörigen wird reduziert werden müssen, Angebote zur Vermeidung von Einsamkeit älterer Menschen werden schlichtweg nicht mehr stattfinden. In der Familienberatung, die bei uns besonders gut angenommen wird, werden wir schmerzhafte Einschnitte machen müssen. Hier ist der Bedarf groß, und wir erreichen die Menschen durch unsere Familienbildungsstätte. Die ganze Arbeit vieler Jahre wird zunichte gemacht.

Was bedeutet das für den Einzelnen?

Heike Keßler-Wiertz Viele Menschen werden nicht mehr wissen, an wen sie sich mit ihren Problemen wenden sollen. Falls es Unterstützung von Freunden oder Bekannten gibt, werden diese nicht ausreichend Fach- und Sachkenntnisse haben, um tatsächlich Hilfestellung geben zu können. Das Fehlen von niederschwelligen Beratungsangeboten im Quartier führt zum Verlust von gegenseitigen Unterstützungsangeboten und damit zu zunehmender Isolierung.

Konkrete Folgen: Wichtige Behördenschreiben bleiben liegen, Schulden häufen sich an, Behördenbriefe treffen auf nicht alphabetisierte Adressaten. Eine Abwärtsspirale beginnt. Für viele Menschen wird das eine Katastrophe sein.

Und welche Auswirkungen erwarten Sie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Heike Keßler-Wiertz Ich gehe davon aus, dass sich die Gesellschaft weiter aufspalten wird: Die und Wir. Es wird zu stärkeren Stigmatisierungen kommen. Die tatsächliche Teilhabe von vulnerablen Gruppen am gesellschaftlichen Leben wird zurückgehen. Auf der einen Seite wird viel Geld ausgegeben, um die Grenzen vermeintlich zu sichern. Auf der anderen Seite wird viel Geld eingespart, das dafür verwendet wird, den Zusammenleben zu stärken. Das ist ein Widerspruch. Und auch wenn wir rein wirtschaftlich denken, wird sich dieses Konzept nicht rechnen: Es wird ein hoher finanzieller Mehraufwand nötig sein, um die Folgen dieser Kürzungen aufzufangen. Um es ganz klar zu sagen: Diese Kürzungen bedrohen den sozialen Frieden. Sie sind gesellschaftlicher Sprengstoff. Und wir wissen: In dieser Stimmung finden Parteien mit vermeintlich einfachen Lösungen Zuspruch.

Welche Maßnahmen planen Sie, um diesen Herausforderungen zu begegnen?

Heike Keßler-Wiertz Akut geht es erstmal darum, unsere permanente Lobbyarbeit zu verstärken. Demonstrationen, Mahnwachen: Dahinter steckt eine Haltung. Wir verstehen uns als Anwälte für die Menschen, die das nicht selbst können. Wir wollen ihnen eine Stimme geben und wir wollen politischen Druck ausüben.

Gleichzeitig müssen wir natürlich die drohende Situation vorbereiten. Und das bedeutet: Wir müssen kritisch die Verwendung der Mittel auf ihre Effizienz prüfen und klären, wie wir das Geld am sinnvollsten nutzen. Außerdem müssen wir als Wohlfahrtsverbände stärker zusammenrücken. Wir haben alle die gleichen Herausforderungen: Mit immer weniger personellen und finanziellen Mitteln immer komplexere Aufgaben zu bewältigen. Und wir alle sprechen für die Menschen, die unsere Unterstützung brauchen.

Aber auch vor Ort müssen wir stärker kooperieren, zum Beispiel bei den Angeboten, die wir machen. Ich glaube auch, dass wir als Wohlfahrtsverbände stärker mit der freien Wirtschaft kooperieren sollten. Es gibt schon gute Beispiele, wo das funktioniert: Beim "Social Day" in Aachen zum Beispiel sind Arbeitgeber auf Zuwanderer getroffen, die sie mit offenen Armen angestellt haben.

Und was erwarten Sie von der Politik und auch von den Kommunen in dieser Situation?

Heike Keßler-Wiertz Der Bürokratismus und der Formalismus in unseren Behörden binden viel Zeit und Ressourcen, die wir an anderer Stelle dringend brauchen könnten. Wir übernehmen viele Pflichtaufgaben des Staates und brauchen eine Veränderung der Verwaltungsstrukturen. Dazu gehört auch endlich die Umsetzung des Online-Zugangs-Gesetzes, also der behördlichen Digitalisierung.

Auch beim Thema Wohnraum sollten wir kreative Ideen wagen und die Leerstände in den Städten unter die Lupe nehmen – auch die Leerstände in kirchlichen Gebäuden. Und ich verstehe nicht, warum wir uns in Deutschland so schwer damit tun, das Ehrenamt steuerlich zu fördern. Es gibt so viele Menschen, die sich einbringen wollen. Und wir brauchen Gespräche auf Augenhöhe. Denn bisher erleben wir uns als Sozialwirtschaft immer als Bittsteller. Dabei erfüllen wir im Grunde den Auftrag, den uns Politik und Verwaltung überhaupt erst gegeben haben.

Welche Rolle kann das Ehrenamt jetzt spielen?

Heike Keßler-Wiertz Vor allem in Krisenzeiten fängt das Ehrenamt viel auf. Das haben wir zum Beispiel bei Initiativen zum Thema Syrien und Ukraine gemerkt. Schnell und konsequent sind Angebote geschaffen worden, als sie gebraucht wurden. Und auch volkswirtschaftlich ist es ein unglaublicher Beitrag, den man in Geldwert nicht unterschätzen darf. Das Ehrenamt bleibt in der sozialen Infrastruktur eine wunderbare Ergänzung. Aber es braucht professionelle Begleitung. Und von den Kürzungen ist zum Beispiel auch der Freiwilligendienst betroffen.

Was wünschen Sie sich in diesen Zeiten von der Gesellschaft?

Heike Keßler-Wiertz Jetzt ist jeder Einzelne gefordert. Situationen, die uns Angst machen, führen entweder dazu, dass wir uns resigniert oder deprimiert zurückziehen oder dass wir uns nach unserem eigenen möglichen Beitrag fragen. Dazu möchte ich ermutigen: Was können wir positiv dagegen halten? Wir müssen ein soziales Ungleichgewicht verhindern. Dafür brauchen wir auch kreative Lösungen, es gibt keine pauschalen Antworten. Wir alle sind Gesellschaft. Und wir sollten zusammenarbeiten. Alle Akteure – auch Politik und Verwaltung. 

Theresa Demski führte das Gespräch. 

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